Aktuelle Forschungen zu Gehirnorganoiden deuten darauf hin, dass unser Nervensystem eine angeborene „Startarchitektur“ besitzt, die bereits entsteht, bevor irgendwelche Reize beginnen, uns zu prägen.
Es könnte den Anschein haben, dass wir mit einem weißen Blatt Papier geboren werden. Wir sehen, hören, fühlen und absorbieren Wissen aus unserer Umgebung, um Erfahrungen zu sammeln, die uns helfen, uns in der Welt zurechtzufinden. Dies ist teilweise wahr, aber nicht ganz – der Mensch beginnt nicht mit einem leeren Blatt, sondern mit „vorinstallierten“ Werkseinstellungen. Forscher beschreiben diese als Aktivitätsmuster, die sich entwickeln, bevor die ersten Sinnesreize wahrgenommen werden.
Der menschliche Organismus startet mit einem eigenen „Betriebssystem“
Dieser Beitrag sollte von jedem frischgebackenen Elternteil gelesen werden, der denkt, dass ein neuer Mensch ganz von Grund auf wie Knetmasse geformt wird. Die Entdeckungen eines Teams der University of California zeigen, wie die früheste elektrische Aktivität im sich entwickelnden Gehirn aussieht. Um dies herauszufinden, analysierten die Forscher Gehirnorganoide, dreidimensionale Strukturen, die aus menschlichen Stammzellen bestehen – man könnte sagen, dass dies miniaturisierte Modelle des Gehirngewebes sind.
Die Analyse der Gehirnorganoide hat ergeben, dass sie in der Lage sind, Entladungsequenzen zu erzeugen, die denjenigen ähnlich sind, die im reifen Gehirn die Basis der Informationsverarbeitung bilden – und das ganz ohne äußere Reize. In einer neuen Veröffentlichung geben die Forscher an, dass sie charakteristische Muster beobachtet haben, die aus dem sogenannten Default Mode Network bekannt sind – einem Netzwerk von Aktivitäten, das die Grundlage für die spätere Wahrnehmung und Interpretation von Signalen aus der Umgebung bildet.
Interessanterweise traten diese Phänomene nicht nur in menschlichen Organoiden auf, sondern auch in Mausmodellen und in Fragmenten der Neokortex von Neugeborenen. Auf dieser Grundlage behaupten die Wissenschaftler, dass das Gehirn eine Art angeborenen Aktionsplan hat, der ohne die Beteiligung der Sinne in Gang gesetzt wird. Um es mit geekiger Terminologie auszudrücken, ist es, als würden wir mit einer Art Betriebssystem-Overlay geboren – ob es sich um Android oder iOS handelt, klärt sich später.
Genetische Programmierung könnte zur Diagnose von Krankheiten beitragen
Die neuen Entdeckungen stellen teilweise die Theorien einiger Forscher in Frage, die behaupten, dass das Gehirn neuronale Entladungssequenzen erst nach der Verarbeitung erster Reize – nämlich Bilder, Geräusche oder Gerüche – „erzeugen“ würde. Dies negiert natürlich nicht das Lernen durch Erfahrung, belegt jedoch, dass es eine angeborene Architektur des Gehirns gibt – und dies nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen Arten.
„Diese Zellen interagieren offensichtlich miteinander und bilden Schaltkreise, die sich automatisch entwickeln, bevor wir irgendetwas aus der Außenwelt erfahren. Es gibt ein primäres Betriebssystem, das vorhanden ist. In meinem Labor züchten wir Gehirnorganoide, um einen Blick auf diese primäre Version des Gehirnbetriebssystems zu werfen und zu untersuchen, wie es sich selbst aufbaut, bevor es durch sensorische Reize geformt wird“, erklärt Prof. Tal Sharf, Hauptverfasser der Studie.
Im Rahmen der Studie wird auch betont, dass es eine Voraussetzung für das Auftreten natürlicher zeitlicher Sequenzen ist, dass die Zellen in einer komplexeren, dreidimensionalen Anordnung platziert werden – ähnlich dem, was in der echten Gehirnrinde geschieht. Die Forscher argumentieren somit, dass dies nicht nur die Wichtigkeit der räumlichen Organisation des Gehirns unterstreicht, sondern auch dass Organoide essentielle Entwicklungsstufen der Neuronen widerspiegeln können.
Was bedeutet das für uns und „zukünftige Menschen“? Solche Beobachtungen eröffnen erstens neue Möglichkeiten für die Forschung zu neurologischen Störungen und könnten zweitens dabei helfen, bestimmte Arten von Krankheiten zu identifizieren. Wenn die frühesten Aktivitätsmuster genetisch programmiert sind, könnten Organoide verwendet werden, um den Einfluss von Toxinen zu testen, die Mechanismen von Krankheiten zu analysieren und Therapien zu entwickeln, in einem Stadium, das zuvor nicht beobachtbar war.











